Nikolaus Schletterer
gegen über wieder grün
Opening: 25. March 2022, 7 pm
March - May 2022

Text zur Ausstellung
Nikolaus Schletterer – Zur Essenz des Realen

In der für die Ausstellung in der Galerie Widauer konzipierten Werkschau von Nikolaus Schletterer stehen elementare existentielle Bedingungen, Befindlichkeiten und Referenzen der Wahrnehmung und des Zuständlichen im Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung. Was ist real? Wie nehmen wir wahr? Was bedeutet Natur? Worin besteht der Widerspruch zwischen Natur und Konstruktion? Was können wir erkennen?

Der auf den ersten Blick enigmatische Titel der Ausstellung erschließt sich, wenn man den Ausstellungsraum betritt. Wir tauchen ein in eine fotografisch computergenerierte Gesamtkonzeption, ein künstlerisches Universum dessen, was unsere Wahrnehmung betrifft. 

Zum einen begegnen wir Fotografien im Raum, an der Wand, als Konstellationen und Interventionen im Galerieraum. Ein mehrteiliger Paravent ist das Kernstück des großen Galerieraums. Die mit Scharnieren verbundenen Alurahmen legen Chromalux Fotografien aus Naturstücken frei. Ursprünglich aus dem chinesischen Kulturkreis stammend, hat ein Paravent zunächst eine Schutzfunktion – er wurde einst als Windschutz aufgestellt, später als allgemeine Raumtrennung und Sichtschutz. Durch seine Präsenz im Raum war auch der ursprüngliche Paravent oft künstlerisch gestaltet. Hier spiegelt er persönliche Erfahrungen des Künstlers in Island wider, als er in Quarantäne- bedingter Isolation nur den Wald, die Natur als unmittelbares Umfeld hatte. So wurde die individuelle Fokussierung auf die Umgebung zum Augenblick einer Erkenntnis zum Naturhaften und der Wahrnehmung: gegen über wieder grün. Das Leporello ist die zeitliche Entfaltung der Natur, also dessen, was unser Auge im ursprünglichen Sinn des Wortes „wahr-nimmt“. Es ist etwas Unmittelbares, Ungefiltertes, Überwältigendes. „Grün“ hat als Farbe der Flora in der Psychologie auch etwas Regeneratives, steht für Wachstum, innere Ruhe, Gelassenheit und Hoffnung. So heißt es auch etwa in Justinus Kerners berühmten und von Robert Schumann vertontem Gedicht von 1840, Erstes Grün: „Du junges Grün, du frisches Gras, wie manches Herz durch dich genas!“

Dem stellt Nikolaus Schletterer in der Ausstellung Pixelbilder gegenüber, die er sowohl als Einzeltafeln den Naturfotografien entgegenstellt, wie auch in Form einer „Salonhängung“ als üppig gestaltete Wand mit vielen unterschiedlichen Bild- und Naturfotografie-elementen. Die Bilder sind keine reinen geometrischen Farbkompositionen,

sondern entsprechen in Größe Konstruktion und Farbwahl bestimmten konkreten Werken der Kunstgeschichte: Neben Delacroix finden sich darunter etwa Werke von Velazquez, Turner, Rousseau, Kirchner, Redon oder Mark Rothko. Ihr Entstehungsprozess, eine computergenerierte immense Vergrößerung der Pixel bis zur finalen Verdichtung des Bildes in pure Farbfelder, ist komplementär zur Präsenz der Natur in Schletterers Naturfotografien: Die drei Fotografien der isländischen Vulkanlandschaft des Fagradalsfjall lassen die Natur als beeindruckend schöne, seltsam skulpturale Lavastruktur erscheinen, während umgekehrt die differenzierte Seelenlandschaft eines Mark Rothko als verpixelt klare Farbkomposition und somit als opake, undurchdringliche Essenz eines künstlerischen Entwurfes eine vollkommen andere Form der Wirklichkeit entstehen lassen. 

Ist das, was wir wahrnehmen, die Wirklichkeit oder ist die Wirklichkeit nur eine Vision, eine Imagination unserer Vorstellung? Diese Frage steht auch im Mittelpunkt der drei Nachtfotografien. Die Bilder geben, wie es dem Wesen der Fotografie entsprechen mag, wohl einen Augenblick des Wirklich wieder, aber sind sie zugleich nicht auch das Ergebnis einer künstlerischen Reflexion, bei der Licht und Schatten zu einem Wechselspiel des Konstruktiven werden? Das Licht löst sich vom banalen Kontext der Autoscheinwerfer und wird zu einer hellen Linie im Raum. Das Schwarz als Darstellung des nächtlichen Himmels wird zum unergründlich dunklen Bildraum und korrespondiert so, auch durch die vom Künstler intendierte Hängung, mit den Farbschichtungen eines Mark Rothko. Doch die Genealogie der beiden Werke ist antagonistisch: Bei Schletterer öffnet die vermeintlich absolute Wirklichkeit des Fotografischen einen Kosmos des Konstruktiven, der Essenz dessen, was Wahrnehmung ist, während bei Rothko die subtil melancholischen Farbschichtungen als Abstraktion in geometrisch klar abgegrenzten Farbfeldern durch unsere Imagination sichtbar werden.

Und hier schließt sich der gedankliche Kreis: Natur und künstlerische Intervention sind keine Antagonismen, sie bedingen einander vielmehr, sind manchmal untrennbar miteinander verbunden und lösen gedankliche Prozesse aus, die in allen von uns die Gewissheit in Bezug auf Wahrnehmung, Konstruktion und Wirklichkeit nachhaltig erschüttern: gegen über wieder grün konstatiert jedoch der Künstler mit einer wohl nachdenklichen, aber letztendlich doch affirmativen Grundhaltung. 

Gaby Gappmayr, 2022