Anna Jermolaewa
Anastasia Jermolaewa
Opening: 5. May 2023, 7pm
May - July 2023
Text zur Ausstellung
Anna und Anastasia Jermolaewa - Die Überhöhung des Akzidentellen
Wenn man die Galerie Widauer betritt, begegnet man einem Paar weißer Pantoffeln. Sie mögen Sinnbild sein für eine Kunst, die vom Biografischen ausgeht und doch das Allgemeingültige, Essenzielle meint. Zum ersten Mal stellen Anna Jermolaewa und ihre Tochter Anastasia Jermolaewa in der Galerie Widauer gemeinsam aus. Es sind zwei unterschiedliche künstlerische Konzepte, und doch gibt es nicht nur biografische Überschneidungen. Die Pantoffeln sind Sinnbild für Traditionen aus dem Heimatland von Anastasia Jermolaewa. Wenn die Großmutter das Haus verließ, platzierte man die Hausschuhe akkurat. Ebenso archetypisch sind die Cookie Cutters (2023), die an wohlbekannte Traditionen anknüpfen, aber durch die skulpturale Umsetzung eine eigene Identität postulieren. Als Prototypen für gemeinsames Backen und wohlige Atmosphäre sind sie zugleich Ausdruck des Alltäglichen, des Gemeinen und der Vervielfältigung. Die Proportionalität und Materialität heben sie aus der Banalität des Alltäglichen.
Jene Überhöhung des Alltäglichen und Individuellen wird gerade auch im Werk von Anna Jermolaewa sichtbar. Ihre künstlerische Konzeption basiert auf einer radikalen Transzendenz des Unscheinbaren und vermeintlich Aleatorischen. In den acht Fotografien im Hauptraum, My Psychogeography 1970-1989 / Houses in which I Lived von 2019 zeichnet die Künstlerin ihr Leben chronologisch in acht exemplarischen Fotografien von Wohnorten nach, wo sie gelebt hatte, bevor sie in den Westen ging. Was auf den ersten Blick wie eine individuelle Biografie in Bildern erscheinen mag, ist tatsächlich eine komplexe Analyse des eigenen Lebensweges, an den wir uns alle unterschiedlich ebenso erinnern mögen. Momente eines Lebensweges. Aus den Begleittexten zu den Bildern wird auch die politische Geschichte jener Zeit präsent. So heißt es etwa zum Bild Lesnoy Lane 6, Ust-Dolyssy Village, Pskov region, built in 1954: “I spent there four months a year until I was fifteen years old. (I was released from school for summer vacation a month earlier every year because I was an excellent pupil.)” Anna Jermolaewa erfasst seismographisch Situationen, die entweder archetypisch sind oder allgemeine erkenntnistheoretische Fragen stellen. In ihrer Kunst postuliert sie unmittelbare Setzungen, nicht metaphorisch Überhöhtes. Die Subtilität ihres künstlerischen Konzepts liegt in der Faktizität des Sichtbaren, nicht in einer symbolischen Übertragung. Wenn sie etwa 2013 an einem St. Petersburger Flohmarkt ein Foto macht, dann sehen wir besonders heute die historisch politischen Zusammenhänge: ein ärmelloser Pullover mit der Aufschrift Revolution (2020), Alltagsgegenstände wie Teller, Socken, eine Mütze oder ein schwarzes T-Shirt mit einem roten Kussmund. Ein aleatorischer Kommentar zur Situation in Russland. Ein ebenso beeindruckender Kommentar ist die große Fotografie im Hauptraum der Galerie, Found Object 3 von 2022. Scheinbar disparate Sessel, arrangiert wie eine Tribüne, stehen inmitten eines Kornfeldes im Nirgendwo. Die Anordnung mag auf ein Ereignis verweisen, bei dem ZuschauerInnen auf ein gemeinsames Ereignis fokussiert sind.
Durch den Wegfall des Ereignisses selbst werden die Sessel zu einem skulpturalen Objekt inmitten einer Landschaft. Ihrer eigentlichen Funktion enthoben, werden sie zu magischen Objekten im Raum, ein imaginärer situativer Kontext ohne Bezugselemente. Als skulpturale Analogie positioniert Anastasia Jermolaewa auf derselben Wand transparente schlauchartige Gebilde. Der Titel der Arbeit ist Coming-of-Age, eine lose Serie von Arbeiten von 2020 bis jetzt. Der Titel verweist auf den transitorischen Charakter der Gebilde. Coming-of-Age als Metapher für Veränderung, Übergang, Sich-Loslösen. Dies alles manifestiert sich in den subtilen formalen Veränderungen. Auch hier ist die ursprüngliche pragmatische Funktion des Objekts nicht mehr sichtbar. Vielmehr suggeriert die Form sanfte Veränderung, Transparenz als Indikator reiner Formensprache und die kreisförmigen Windungen als Verschlingungen. Zwei weitere Arbeiten seien hier als exemplarische Postulate einer Kunst genannt, die biografisch zutiefst berührt und gleichzeitig künstlerische Manifestation des Existenziellen ist: Zum einen Anna Jermolaewas Komposition Ribs (2022/23). Präsentiert auf echten Röntgenleuchtkörpern, macht die Künstlerin vermeintlich Röntgenbilder sichtbar, etwa Fragmente von Wirbelsäulen oder Lungen. Jedoch fällt die kreisrunde Form auf. Und tatsächlich handelt es sich hierbei um ein ausgeklügeltes System, bei dem aus Röntgenbildern Schallplatten geschaffen wurden, die auch abspielbar sind. Vom russischen Regime nicht akzeptierte Tondokumente, die einem im wahrsten Sinn durch Mark und Bein gehen. Musik auf Knochen also, eine wunderbar pazifistische und zugleich unglaublich betroffen machende Form von Subversion. Ebenso berührend ist auch das Video Russian Accent Lessons (2023) von Anastasia Jermolaewa. Sie lebt inzwischen in Montana und wollte mit Hilfe eines Sprachcoaches ihren verloren geglaubten russischen Akzent im Englischen wiederfinden. Es ist eine Reflexion über die Rekonstruktion von Heimat und Identität. Sprache ist mehr als eine bestimmte Bezeichnung von Wörtern und Begriffen. Es ist eine existenzielle Bestimmung von Ort. Durch die künstliche Konstruktion von Sprache thematisiert Anastasia Jermolaewa die Suche nach ihren Wurzeln.
Ein Werk, das die Komplexität des Bezughaften auf eindrucksvolle Weise widerspiegelt, ist Anna Jermolaewas Fotografie aus der Serie Chernobyl Safari von 2014/21. Es ist eine Szene inmitten der Sperrzone von Tschernobyl. Durch die Evakuierung der Bevölkerung ist es ein leerer Ort, auf dem Foto sieht man eine Nachtaufnahme eines Przewalski Pferdes im dunklen Wald. Der bedrückenden Wirklichkeit setzt Jermolaewa hier ein fast märchenhaftes Traumbild entgegen. Die Momentaufnahme eines wilden Pferdes dokumentiert auf eindrucksvolle Weise die Rückgewinnung der Natur durch die Tiere. Das Pferd als symbolträchtiges Tier wird durch die Schwarz-Weiß Aufnahme mythisch überhöht und entrückt den Schreckensort in eine imaginäre, ideale Welt.
Gaby Gappmayr 2023